x
Um unsere Webseite für Sie optimal zu gestalten und fortlaufend verbessern zu können, verwenden wir Cookies. Durch die weitere Nutzung der Webseite stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen zu Cookies erhalten Sie in unserer Datenschutzerklärung.
Manchmal eine Stunde, da bist Du

Belletristik

Arno Dahmer

Manchmal eine Stunde, da bist Du

Von der Suche nach dem Ich: Martha lebt mit ihrem Sohn im ererbten Gehöft. Sie muss nicht mehr arbeiten, kümmert sich um Haus und Garten und denkt immer noch an Ludwig, ihre große Liebe. Doch eines Tages verschwindet das Wasserwerk spurlos ... und dann auch noch ein Aussiedlerhof … Und vielleicht geht auch Martha ganz allmählich verloren. – Arno Dahmer erzählt mit wunderbarer Beobachtungsgabe und dem genau richtigen Blick fürs Detail von Menschen in ganz unterschiedlichen Lebenssituationen.

Andere Titel des Verlags bzw. der Autorin/des Autors

Verlagstexte

Wer bin ich? Wo und wie wird dieses Ich greifbar? – Die vierzehn Erzählungen von Arno Dahmer umkreisen das Thema "Identität". Sie handeln von der Identitätssuche in den Wirren der Pubertät, Identitätskrisen in höherem Alter und Versuchen, die eigene Identität in einer erbarmungslosen Arbeitswelt zu behaupten.

So wird ein Gemälde Paul Klees zur Metapher für das Ende der Kindheit (Die Entgrenzung Paul Klees). Heimkehr in die Fremde erzählt von drei Vierzehnjährigen, denen die vertraute Lebensumgebung mit einem Mal als etwas Fremdes erscheint – oder sind sie sich nur selbst fremd geworden? – In Die andere Wirklichkeit reist der fünfzigjährige Freeclimber Lorenz seit Jahrzehnten von Klettergebiet zu Klettergebiet und lebt dabei von Gelegenheitsarbeiten. Dann lernt er Monica kennen und begleitet sie bei ihren ersten Kletterversuchen. Mit Humor und Empathie gelingt es ihr, Lorenz zu einer Leichtigkeit und Spontaneität zu bringen, die ihm bislang fremd war. Vielleicht wäre sogar eine Liebesbeziehung möglich, doch letztlich bleibt Lorenz in seinem Aussteigerleben gefangen, das im Lauf der Zeit identitätsstiftend geworden ist. Monica dagegen wird ihr Leben womöglich grundlegend verändern. - Wieder einer anderen Identitätsproblematik begegnen wir in Der Fischer: Der etwa fünfundzwanzigjährige Hannes Fischer, der sich bisher als Call-Center-Agent durchgeschlagen hat, zieht einen gutbezahlten Job bei einer Versicherung an Land. Doch seine diffusen Träume von Freiheit und Wohlstand lassen sich jetzt ebenso wenig verwirklichen wie zuvor. Am Ende bleibt ihm nichts anderes übrig, als ins Call-Center zurückzukehren.

Arno Dahmer erzählt in intelligenter und eleganter Sprache und mit subtilem Humor. Durch die genaue Beobachtung und Schilderung von Details fühlt sich der Leser wie durch Filmszenen geführt, die auch als Bild noch lange nachhallen.

Leipziger Buchmesse 2017: Halle 5/Stand H210

Lesung von Arno Dahmer: 25.03.2017, 20.30 Uhr im Café "Puschkin" in Leipzig

Downloads

© Cover: Verlag, Foto(s):Arno Dahmer

Textprobe(n)

Der Fischer

"Es war einmal ein Fischer und seine Frau, die wohnten zusammen in einem alten Pott dicht an der See, und der Fischer ging alle Tage hin und angelte, und er angelte und angelte."
(Jacob und Wilhelm Grimm, Von dem Fischer und seiner Frau)

Fischer erwacht und sieht einen jungen Mann: Sein Gesicht ist stark gerötet, große bläuliche Tränensäcke liegen unter den Augen und dort, wo die Nasenflügel ansetzen, winden sich violette Äderchen. Der offene Mund lässt fragile, zu ihren Rändern hin fast durchsichtige Zähne sehen.

Fischer betrachtet den Mann; Gedanken wabern; Sekunden, vielleicht Minuten vergehen und Fischer zuckt auf: Kein fremder junger Mann, er, Hannes Fischer, liegt dort, halb versunken in einem fabrikneuen Softside-Royal-Flex-King-Size-Wasserbett. Einen Spiegel über das Bett zu montieren – das ist kein guter Einfall gewesen. Fischer sackt zurück und fixiert den Mann im Spiegel; ein wenig zweifelt er noch an dessen Identität. Gestern hat er seinen Einstand bei der 'Provisoria Versicherungs-AG' gefeiert, in erster Linie aber, so scheint ihm, seinen Ausstand – als Würstchen, als Depp, als Kreatur. Diese Überlegung ermuntert, ja stimuliert ihn; er schwingt die Beine aus dem Bett.

Er sondiert das Zimmer mit hastigen Blicken. Gut, sehr schön, es ist alles noch da: die maßgefertigte Le-Corbusier-Chaiselongue, das Regal aus Sandelholz, das den Raum beständig mit einem leisen, aromatischen Duft erfüllt, der kostbare Espressoautomat, lauter goldene Stühle und Tische … und das Essen und der allerbeste Wein standen auf den Tischen, als wenn sie brechen sollten … und da war auch noch … ein Lustwäldchen, wohl eine halbe Meile lang, darin waren Hirsche und Rehe und Hasen, alles, was man sich nur immer wünschen mag.

Durch die Jalousie lugt ein Sonnenstrahl und bricht sich in den blanken Oberflächen der Kaffeemaschine; 'Jura Impressa' steht auf einer seidig schwarzen Plakette inmitten des Gefunkels. Fischer betätigt einen Schalter, Milch und Kaffee fauchen in die Tasse hinab und mischen sich. Er trinkt, dann drückt er den Schalter erneut. In einem zähen Kampf weichen Spuren von Blutalkohol, Schwindel und Benommenheit, der Übermacht des Koffeins. – Es ist einfach nicht klug gewesen, ganze Monatsgehälter zu verschleudern – wie viele eigentlich? −, noch bevor das erste ausgezahlt wird. − Aber, denkt Fischer, als der Rasierer beruhigend summt, ob klug oder nicht, die schlichte Konsequenz von Jahren der Armut ist es.

Sakko, Hemd, Hose − Fischer vervollständigt seine Garderobe mit einem Paar rahmengenähter Lederslipper. Es ist spät geworden. Fischer stürmt die Treppe hinab und nähert sich in übermütigen Sprüngen einem Auto – ein Audi 80, indianarot, verbeult und rostfleckig – geblieben aus den Tagen seines Würstchen-Daseins.

'Hannes Fischer − Maklerbetreuung und Außendienstkoordination' steht auf dem Plexiglasplättchen links der Tür, als stünde es schon immer dort. Wenn Fischer das sieht, muss er jedes Mal ein ungläubiges Lachen unterdrücken. Ein Büro nur für ihn! Bei seinem ehemaligen Arbeitgeber, der 'Telefon-Suite', einem waschechten Call-Center, hat er gewöhnlich mit fünfzig weiteren sogenannten Agenten in einem Großraumbüro gesessen. Hier trat man nicht in Beziehung zu Räumen, ja, nicht einmal zu Tisch oder Stuhl. Beinah täglich wurden er und seine Kollegen an neue Sitzplätze oder in andere Büros beordert. War es reine Schikane, der Versuch, eine schüchtern sich entwickelnde Berufskameradschaft zu ersticken, oder gab es tatsächlich jene Notwendigkeiten, die für 'projektbezogene' erklärt wurden? − Fischer war nie dahinter gekommen.

Kaffee entwässert und schadet den Nerven, doch auf beides, denkt er, kommt es bei mir ohnehin nicht mehr an. Fischer schlendert also in die Teeküche und zapft sich eine Tasse aus der Maschine, die wenigstens ebenso sehr funkelt wie das heimische Modell, aber noch weitaus kolossaler und wertvoller aussieht. Der Kaffee schmeckt rund, sozusagen kreisrund, und lässt eine Bohne vors innere Auge treten. Auch bei der Telefon-Suite hat es Kaffee gegeben, der – Fischer muss es heute als erstaunlich bezeichnen – anfangs diese Gedankenverbindung hervorrief; die Vorstellung einer Bohne wurde jedoch zusehends von der eines Suppenwürfels verdrängt, so dass die ursprüngliche Assoziation zuletzt gänzlich aus dem Bewusstsein fiel.

Fischer geht langsam, am Kaffee nippend, ins Büro zurück und schließt die Tür. Wäre es jetzt überhaupt noch möglich, Suppenwürfel-Kaffee aus einem dieser gerippten Plastikbecher zu trinken, außen braun und innen weiß, die überschwappen, wenn man die Hand zu fest um sie schließt? – Das Telefon klingelt. – Herr Bandahl von der Bezirksdirektion Wiesbaden ist am Apparat. Jemand wolle eine Vertrauensschadenversicherung abschließen. Ob Fischer ihm dazu Auskunft geben könne? Fischer wird heiß. So etwas hat er befürchtet. Zufälligerweise liegt Professor Doktor Reimer Schmidts Versicherungsalphabet in Reichweite auf dem Tisch. Während Herr Bandahl sich in vollends unverständliche Details verliert, blättert Fischer darin herum. Wie durch ein Wunder stößt er auf den Abschnitt 'Vertrauensschadenversicherung' und beschließt kurzweg, ihn vorzulesen. "Es gibt drei Gestaltungsformen: nach den Allgemeinen Bedingungen für die Vertrauensschadenversicherung (ABV), Versicherungsnehmer ist der Arbeitgeber, Vertrauenspersonen sind die im Versicherungsschein bezeichneten Personen oder Personengruppen (Pauschaldeckung) …", Fischer müht sich um eine ungezierte Redeweise, so, als spreche er frei und aus Erfahrung, "… nach den Allgemeinen Bedingungen der Vertrauensschadenversicherung (Personenkautionsversicherung)-ABV (PKautV), Versicherungsnehmer und Vertrauensperson ist der Arbeitnehmer oder Beauftragte, aus der Versicherung Begünstigter der Arbeitgeber bzw. Auftraggeber …" − Anscheinend sind diese Informationen für Herrn Bandahl ausreichend oder er hat eingesehen, dass er hier nicht weiterkommt, in jedem Fall sagt er: "Vielen Dank. Auf Wiederhören", und hängt ein. Fischer atmet tief, dann lacht er tonlos auf. Wer einmal im Call-Center gearbeitet hat, dem ist zumindest nichts mehr peinlich. Fischer erinnert sich an eine Telemarketing-Aktion, deren Ziel es gewesen ist, Firmen von der Notwendigkeit einer Grunderneuerung ihrer EDV zu überzeugen, oder vielmehr: ihnen das Wahnbild dieser Notwendigkeit vor Augen zu führen. Der Auftraggeber hatte einen weiteren Subunternehmer, ein Adressenbüro, angeheuert, um geeignete Telefonnummern zu beschaffen. Dieses hatte jedoch gepfuscht und Daten von Kleinstunternehmern, von Friseursalons, Bäckereien und Imbissbuden, geliefert. Die Call-Center-Leitung schien das nicht zu beirren, wenigstens insofern nicht, als die Adressen dennoch abtelefoniert wurden.

"Bäckerei Heinz, Guten Tag", sagte eine weibliche Stimme.

"Guten Tag, Fischer mein Name von der Firma BMI."

"Welche Firma …?"

"B-M-I … dürfte ich bitte ihren EDV-Leiter sprechen?", sagte Fischer wild entschlossen.

"EDV-Leiter", wiederholte die Bäckersfrau langsam, offensichtlich ohne etwas zu begreifen. "Moment mal bitte …" – "Herbert … Herbert", rief sie dann, man hörte ihre Worte durch einen größeren Raum hallen. "Ja, ja", ließ sich eine unlustige, tiefe Stimme vernehmen. "Haben wir einen EDV-Leiter?" – "Ne, hammer net." – "Haben wir nicht", echote die Bäckerin in den Hörer.

"Nun gut, Frau …"

"… Heinz …"

"Gut, Frau Heinz, dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag."

"Das ist doch Irrsinn!", sagte Fischer Augenblicke später zu einer neben ihm sitzenden Kollegin. "Mmh", machte seine Nachbarin. Ihr Gesicht war verquollen, rot, ihre Stirn glänzte. Was sollte sie auch dazu sagen? Viel irrsinniger war letztlich die Tatsache, dass sie überhaupt hier saß, mit neunundreißig Fieber, wie sie bei anderer Gelegenheit mitgeteilt hatte; aus der Befürchtung heraus, gekündigt zu werden, wie es ihr bei einem anderen Arbeitgeber, einer Tankstelle, angeblich geschehen war. Doch ehe Fischer diesen Gedanken weiterverfolgen konnte, baute sich der sogenannte Supervisor neben ihm auf. Was hier vor sich gehe? Für Privatgespräche sei Zeit in der Pause. "Übrigens, Herr Fischer, ich habe mir erlaubt, eines Ihrer Telefongespräche zu prüfen." Fischers Herz schlug schnell und flach. Jedes Gespräch wurde auf Band aufgezeichnet, das war bekannt; dass aber jemand von diesen Tonkonserven Gebrauch machte – den schalen, wie in Endlosschleifen gefangenen Sätzen der Agenten lauschte −, hatte er sich nicht ernsthaft vorstellen können. "Sie sind nicht mehr der Alte", fuhr der Supervisor fort, "Ihre Gesprächsqualität lässt nach. Strengen Sie sich an, wir können für Sie keine Extrawürste braten, für niemanden …"

"Ach", sagte die Frau, "es ist doch übel, hier immer in dem alten Pott zu wohnen, der stinkt und ist so eklig …"

Gegenüber von Zimmer 102 ist die Toilette. Immer wenn Fischer sich hier erleichtert, hat er das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. Tatsächlich verboten gewesen ist der Gang zur Toilette bei der Telefon-Suite, jedenfalls außerhalb der Pausen von zehn Uhr zehn bis zehn Uhr zwanzig und von sechzehn Uhr zehn bis sechzehn Uhr zwanzig. − "He!", ruft jemand. Fischer fährt herum – und sichtet nur den freundlich dreinblickenden Quadratschädel seines Kollegen Koch, der unweit von Fischers Zimmer in einem Büro residiert, das mit Geduldsspielen vollgestopft und mit Sinnsprüchen tapeziert ist. "Kommst du mit essen?", fragt er.

Auf dem Weg zum Aufzug stoßen weitere Kollegen zu ihnen. Die meisten kennt Fischer schon flüchtig. Da ist der ewig grinsende, rosé-fleischige Meier, oder Müller-Launer, der über einem ballonartigen Rumpf, so scheint es, einen länglich runden Kopf samt Ziegenbart balanciert und alle Viertelstunde und mit regungslosem Gesicht einen Kalauer von sich gibt. − Mit ihnen lässt es sich aushalten. Und im Windschatten ihrer gleichsam selbstverständlichen Körper und Gespräche steuert es sich mühelos durch das Stimmengewirr der riesigen Kantine, einschläfernd und erregend zugleich, durch die Essensdünste, die beirrende Vielfalt der Nahrungsangebote und die Tücken der Chipkarten-Zahlung.

Nach dem Essen, als sie sich über die unmerklich verschmutzten, roten und blauen Flächen des Teppichs bewegen und Einzelne oder kleine Gruppen in den Zimmern längs des Flurs verschwinden, tippt Koch ihn plötzlich an, sagt, er solle mal mitkommen und nimmt Kurs auf die Toilette. Fischer fragt sich, was hier gespielt wird, aber auffallen möchte er nicht, um keinen Preis, schließlich ist er in der Probezeit, und folgt ihm also.

In der Toilette, vor dem monumentalen Wandspiegel, der im Licht unzähliger Halogenbirnchen bronzen schimmert, zeigt Koch auf Fischers Krawattenknoten und sagt mit gespielter Entrüstung: "So kannst du hier nicht rumlaufen!" − In der Tat, was Fischer dort am Hals hängt, ist irgendein Seemannsknoten, bestenfalls verwandt mit den zierlichen Gebilden, die seine Kollegen anzufertigen wissen. Eine Krawatte hat er seit Jahren nicht mehr umgebunden und ein Meister dieser Kunst ist er nie gewesen. − "Ich zeig dir mal, wie das geht!" Koch zieht den eigenen Krawattenknoten auf und bedeutet Fischer, das Gleiche zu tun. Dann knüpft er den Knoten Schritt für Schritt und Fischer schaut abwechselnd in den Spiegel und auf Kochs geübte Hände und versucht, sich alles einzuprägen. Am Ende dieser Prozedur klopft ihm Koch auf die Schulter. "Das Wichtigste kannst du jetzt schon", sagt er mit listigem Grinsen.

Manchmal eine Stunde, da bist Du
Erzählung(en)
ALS BUCH:
Hardcover

Fadenheftung

208 Seiten
Format: 124 x 194 mm
Auslieferung: ab 4. Februar 2017
D: 16,90 Euro A: 17,40 Euro CH: k. A.

ISBN (Print) 978-3-9816674-7-9

Unter der Voraussetzung, dass Sie sich bei uns als professionelle(r) Nutzer(in) registriert haben, können Sie Ihr persönliches REZENSIONSEXEMPLAR durch einen Klick auf den Button „Download“ herunterladen.

Symbol Tablet DOWNLOAD

Der Verlag im Netz:

Pressekontakt des Verlages:

Barbara Miklaw (Verlegerin)
+49 (0)35244 49885
post(at)mirabilis-verlag.de

Vertriebskontakt des Verlages:

Barbara Miklaw (Verlegerin)
+49 (0)35244 49885
post(at)mirabilis-verlag.de