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Staubzunge

Belletristik

Hanna Sukare

Staubzunge

Die meisten suchen etwas. Das Ziel ihrer Suche ahnen sie nur. Was suche ich? Die Antwort auf eine Sehnsucht – wonach?

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Verlagstexte

Wenn Matthias Röhricht von seinem Job in einem großen Konzern spricht oder zu jeder Dienstreise eine andere Assistentin mitnimmt, vermutet man nichts von seiner streng religiösen Erziehung. Als Erwachsener tut der Sohn eines evangelisch-freikirchlichen Pastors und einer Flüchtlingsfrau aus Polen so, als habe er mit seinen Eltern nichts zu tun. Das Dogma, die Gewalt und das Schweigen, die er als Kind erlebt hat, versucht er zu vergessen. Auch seine Schwester Adele lebte jahrelang distanziert von den Eltern. Sie nähert sich ihrer Mutter Jad erst wieder, als diese ihre Erinnerung verliert und nicht mehr weiß, dass Adele ihre Tochter ist. Der Tod der Mutter wird für die beiden zur Zäsur. Matthias zieht sich aus allen bisherigen Beziehungen zurück. Adele beginnt rastlos Orte aus Jads Vergangenheit zu suchen und verfällt einer Suchsucht nach der eigenen Zugehörigkeit. Neben einer Erzählerin berichten vier Frauen über Matthias Röhricht und seine Herkunftsfamilie: Röhrichts Frau, seine Schwester, eine Tante und eine Cousine. Sie weiten die Geschichte von Matthias und Adele zu einer Geschichte der Schmerzpunkte des 20. Jahrhunderts. Krieg, Rassismus, Flucht und Vertreibung melden sich in den Nachgeborenen in Form von Unruhe, seelischer Erstarrung oder Phantomschmerz. Die Geschichte mit dichten, poetischen Bildern erzeugt einen Sog, dem man sich kaum entziehen kann.

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© Cover: Verlag, Foto(s): Milan Böhm

Textprobe(n)

Matthias und Adele
Am Morgen sinkt das Gebet des Vaters auf Kakao und Haferflocken, mittags schliert es in die Suppe, abends riecht es aus den Käsebroten. Lieber Vater im Himmel, beginnt der Vater auf Erden, wir danken dir für diese Gaben, fährt er fort, und wir bitten dich, segne sie. Amen. Das Amen sprechen auch die Mutter und die beiden Kinder. Sie sind erleichtert, wenn der irdische Vater zur Anrufung des himmlischen Vaters die kurze Version wählt. Oft folgen dem Gebet die Tageslosung der Herrnhuter Brüdergemeinde und eine neuerliche Anrufung. Komm Herr Jesus sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast, das sagen die Kinder. Sie blicken zur Tür, ob noch jemand kommt, der Herr Jesus im dunklen Anzug vielleicht, sie sind überzeugt, Jesus trägt einen dunklen Anzug, weshalb sollte der Vater ihn sonst Herr nennen. Der Vater wendet sich an den Vater im Himmel, manchmal spricht er mit dem Herrn Jesus Christus, manchmal mit einem Heiligen Geist. Alle drei scheinen sie Verwandte des Vaters zu sein und etwas mit dem zu tun zu haben, den er Gott nennt. Die Kinder beneiden diese Verwandtschaft. Der Vater ist mit ihr verbündet, dreimal täglich spricht er mit ihr, den Kindern schenkt er Schweigen, nennt sie nur selten mit ihren Namen, Matthias, Adele. Über seine irdische Verwandtschaft verliert er kein Wort, zeigt kein Bild. Wenn Jesus nicht kommt und die Eltern, sobald das erlösende Amen gesprochen ist, das Besteck zur Hand nehmen, dürfen auch die Kinder zugreifen.

Wer ist der Vater auf Erden, wer ist der Vater im Himmel? Täglich ist etwas von ihnen anwesend, doch die Kinder sehen beide unscharf, verschwommen. Beide Väter sind das Gesetz. Beide wachen über das Leben der Kinder.

Sonntags steht der Vater in Früdorf auf der Kanzel, er spricht, die Gemeinde lauscht. Wer bist du? Tadelloser, von den Frommen Geliebter, hoch Stehender. Bist du der Vater? Bist du mein Vater, fragt stumm ein Kind zur Kanzel hinauf. Amen, sagt die Mutter jeden Sonntag laut aus der Kirchenbank in die Augen des Vaters. So legt sie Zeugnis ab für die Sätze von oben und versieht sie mit einem Ausrufezeichen. Schließlich verlässt der Vater seine Bühne und schreitet durch den Mittelgang hinaus. Im Portal bleibt er stehen und erwartet die Brüder und Schwestern im Herrn. Für sie findet er Worte, er schüttelt Hände. Der Vater, die ewige Präsenz. Er hat die Welt schon als Vater betreten, als Diener des Herrn, ein Fels von Anbeginn. Ein Kind kann er nie gewesen sein; und seit je hieß er Fau.

Die Wohnung ist das Zuhause, und sie ist der Amtssitz des Vaters. Das geistliche Amt hat sich als Prunkwagen unter seinen Leib geschoben. Die Karosse führt ihn mit der Mutter auf die Anhöhe der Pfarrei, erhebt die beiden über die Dorfbewohner. Schmaler Sold kommt dem Vater zu und eine ehrenhafte Stellung im Dorf. Der Vater ist hier kein Fremder, die Mutter ist kein Flüchtling, und sie heißt Jad. Die Heimat der beiden ist das Reich Gottes. Niemand fragt den Amtsträger nach den Umständen seiner Geburt, nach seiner Herkunft, keiner will wissen, wer der unter dem Talar ist. Das Amt sichert dem Vater Würde, das Amt macht ihn unantastbar. Einer, zu dem wir aufschauen. Ein Besserer, von Beruf Vorbild. Er tut das Gute, zum Wohl des Nächsten.

Zur Einweihung der neuen Dorfschule spielt die Blasmusik, der Bürgermeister spricht, ein Mädchenchor singt, der Rektor hält eine Rede; nach ihm be- steigt der Vater das efeubekränzte Podium und erbittet Gottes Segen.

Das Pfarrhaus ist eine Insel. Drei Meere trennen die Insel vom Dorf: die Hochsprache, der rechte Glaube, die fremde Herkunft. Jeden Sonntag kommen die Dorfbewohner die Anhöhe zur Kirche herauf. Ihren Dialekt verstecken sie unter den Sonntagskleidern. Drei Meere trennen die Kinder von Spielgefährten im Dorf. Die Dorfkinder hören, diese Kinder sprechen nicht wie sie, das sind die Pastorskinder, glauben wohl, sie sind was Besseres, und die Dorfkinder wissen, die sind neu im Dorf, fremde Körper. Der Bub und das Mädchen finden sich hinein in das Inselleben, erlernen den Dialekt, aber sie gehören nicht dazu. Gehören nicht zu den Hügeln, die Früdorf umgeben, sie kommen ja aus Österreich, das ist Ausland; im Sommer tragen sie Lederhose und Dirndl. Herr und Frau Pastor mögen von weit her kommen und das Amt erhebt sie über das Dorf, als Fremde gelten sie hier nicht.

Erna stellt ihren Karren vor der Kirchentür ab und zieht den großen Schlüssel aus der Schürze. Die Kinder zupfen an Ernas Rock. Erna hebt die Kleine auf den Arm und tätschelt ihr den Hintern. Erna nimmt Putzfetzen, Kübel und Besen aus dem Karren und schließt die Tür der freikirchlichen Gemeinde auf. Die Tür steht kaum halb offen, die Kinder drängen sich unter Ernas Arm hinein und rennen im Wettlauf zum Altar. Wer zuerst dort ist, darf Pastor sein. Meistens gewinnt der Bub, er steigt auf den Sessel hinter der Kanzel, beruft seine Schwester zur Organistin, der Gottesdienst beginnt mit dem Vorspiel auf dem Harmonium. Die Organistin tut, als drücke sie die Tasten, der Vater hat das Harmoniumspielen verboten. Sonst dürften sie nie wieder mit Erna in die Kirche. Während des Präludiums senkt der Bub den Kopf, ruckt ein wenig an dem Gesangbuch, das vor ihm liegt, und gibt der Organistin schließlich mit einem Kopfnicken zu verstehen, das Vorspiel sei zu beenden. Sie setzt sich in eine Bank. Er erfindet und zelebriert den Eingangssegen, ein Evangelium des Tages und befiehlt das erste Gemeindelied: Großer Gott wir loben dich. Dann begrüßt er Gäste aus anderen Gemeinden. Erna spricht Grußworte. Der Bub spricht ein Gebet, dann predigt er. Seine Schwester hüpft zu Erna, hilft ihr wischen und bekommt ein Gutsle. Hat Erna Bonbons in der Schürze, kürzt der Bub die Predigt, lässt wieder singen und rennt während des Liedes zu Erna um ein Gutsle. Zurück auf dem Sessel hinter der Kanzel verliest er Bekanntmachungen von einem leeren Blatt, lässt singen, breitet die Arme aus und spricht den Ausgangssegen, das Zeichen für die Organistin, zum Harmonium zu laufen. Die Mutter kommt aus der Wohnung, die über dem Kirchensaal liegt, tritt auf die Empore und ruft die Kinder zum Essen. Hände waschen und kämmen vorher! Getuschel der Kinder im Dialekt der Nachbarskinder, den die Eltern nicht verstehen, die Geheimsprache ist im Haus verpönt. Der Vater geht an der offenen Badezimmertür vorbei. Deutsch reden! Bei Tisch haben Kinder zu schweigen. Sapperlott! Vater und Mutter wechseln kaum ein Wort. Die Kinder stochern in der Senfsauce, hart gekochte Eier sind drin.

Staubzunge
Roman / Novelle
ALS BUCH:
Hardcover
176 Seiten
Format: 115 x 185 mm
Auslieferung: ab 1. August 2015
D: k. A. A: 18,00 Euro CH: k.A.

ISBN (Print) 978-3-7013-1232-0

ALS EBOOK:
Datenformat(e): epub
Auslieferung: ab 1. August 2015
D: k. A. A: 14,99 Euro CH: k.A.
ISBN (eBook) 978-3-7013-6232-5

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