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Die Leiden des letzten Sijilmassi

Belletristik

Fouad Laroui

Die Leiden des letzten Sijilmassi

Deutsch von Christiane Kayser

Fouad Laroui erzählt in seinem neuen Roman vom Konflikt einer ganzen Generation von Menschen, deren kulturelle Wurzeln in der muslimischen Welt liegen und die zugleich durch einen Bildungs- und Berufsweg in der westlich aufgeklärten Welt sozialisiert sind. Während sie für sich selbst noch versuchen, einen versöhnlichen Weg des Kompromisses vermeintlich gegensätzlicher Kulturen zu finden, sind sie längst zum Spielball zwischen den Fronten geworden.

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Verlagstexte

Ingenieur Adam Sijilmassi hat erreicht, was sich sein Großvater Hadj Maati nie hätte träumen lassen: International diplomiert ist sein Weg an die Spitze eines marokkanischen Industriekonzernes vorgezeichnet. Doch auf einer Geschäftsreise überkommt es ihn hinterrücks: Was um Himmels Willen macht er 30.000 Fuß über der Andamanen-See in einer umweltverpestenden Blechbüchse? Und warum nur diese Eile?

Als Adam beschließt, sein Leben grundlegend zu ändern und sich im Riad der Vorfahren auf die Suche nach seinen kulturellen Wurzeln zu machen, nimmt die Geschichte einen dramatischen Verlauf. Denn ehe er sich versieht, steht Adam im Fokus politisch-religiöser Machenschaften ...

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© Cover: Verlag, Foto(s): privat

Presse- und Autorenstimmen

Fouad Laroui, Français de coeur et de culture est un brillant conteur qui n'hésite pas à recourir à l'humour, voire à la satire, pour faire passer un certain nombre d'idées et de valeurs auxquelles il tient : humanisme, tolérance et ouverture à l'autre.

(

Jean-Claude Perrier, Livres Hebdo

)

Video

Textprobe(n)

Eines Tages stellte sich Adam Sijilmassi in dreißigtausend Fuss Höhe plötzlich folgende Frage:

"Was tue ich eigentlich hier?"

Er flog nicht selber wie ein Vogel: Nein, er saß zusammengekrümmt auf Platz 9A eines Linienflugzeugs der Lufthansa. Gerade hatte er sich die Frage gestellt ("Was tue ich eigentlich hier?"), und jetzt untersuchte er sie von allen Seiten.

Mit einem Blick in die Runde versicherte er sich, dass ihn niemand beobachtete, denn er konnte nur in Ruhe meditieren, wenn er allein in seiner Ecke saß, unbeachtet, ohne kollektive Aufmerksamkeit.

Adam dachte also nach. Und es gelang ihm nicht, eine Lösung für dieses Rätsel zu finden: warum befand sich sein Körper auf dreißigtausend Fuß Höhe und wurde mit Überschallgeschwindigkeit von Reaktoren durch die Luft geschleudert, die in der Nähe von Seattle oder Toulouse entwickelt worden waren – sehr weit von seinem heimatlichen Azemmour entfernt, wo die Karren, die zum Markt fuhren, selten schneller waren als ein trottender Maulesel, wo die handbetriebenen Wägelchen sich dem Tempo des sich von Problem zu Hindernis schleppenden Bettlers anpassten. Die Boeing war da etwas anderes. Neunhundert Kilometer in der Stunde ... Warum denn so eilig, großer Gott? Durch das Bullauge machte sich das Universum in einem manchmal von durchsichtigem Weiß zerfetzten Blau bemerkbar, doch es hätte auch nicht viel geändert, wenn es mit Violett oder Gold durchwirkt gewesen wäre, denn hier ging es nicht um Natur, sondern eher um die Geschichte des Menschen, die Verteilung des Menschengeschlechts auf dem Planeten. Das passte: der Planet wiederum war auf der anderen Seite des Bullauges in seiner Nacktheit sichtbar. Sicher hatte dieser Umstand unseren Helden zum Grübeln gebracht: losgelöst von der Erde, von der Schwerkraft befreit, ohne Kontakt zum festen Boden wurde er zum reinen Geist. Und dieser reine Geist hatte gerade eben begriffen, dass etwas Unwürdiges in dieser geschäftigen Übertragung eines menschlichen Körpers entlang der Vermessung der Welt lag.

In seinem Bauch zog sich ein Angstknäuel zusammen, ein paar Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn, seine rechte Hand begann unkontrolliert zu zittern.

"Was tue ich hier?"

Wie ein Echo hallte ein anderer Satz durch seinen Kopf:

"Du lebst das Leben eines Anderen."

Wieder sah er sich im Flugzeug um. Überall saßen Geschäftsleute über Magazine, Berichte, Computermonitore gebeugt ... Fast schien es ihm, dass sie ihm alle ähnlich waren, den gleichen dunklen Anzug trugen, das gleiche weiße Hemd, die gleiche Krawatte. Sicher konnte man in ihren Augen die gleichen Überlegungen, die gleichen Zahlen lesen ...

"Bin das wirklich ich?"

Er dachte an seinen Großvater, den Hadj Maati, einen würdigen Greis, der unbeweglich im Hof seines Hauses saß, seine Tage und Nächte damit verbrachte, weise Traktate durchzuarbeiten, die 1000 Jahre zuvor in Bagdad oder Andalusien geschrieben worden waren, Schätze in Kufisch oder in Naschi, deren Schriftzüge anderes von der Welt enthüllten als den Preis von Asphalt oder Säure – oder das Bankkonto eines indischen Käufers.

Adam fiel auf, dass sein Großvater niemals die Geschwindigkeit eines durch die Doukkala-Ebene galoppierenden Pferdes überschritten hatte – und dieser Galopp beinhaltete alles Edle, das sich ein Mensch nur wünschen konnte. Zwischen der unbeweglichen Weisheit des Hadj und dem hochtrabenden Lauf des Vollblutpferdes lagen alle Bewegungen, die uns hienieden beschäftigen können, in der kurzen Zeit eines schönen Lebens, ohne auf der Erde andere Spuren zu hinterlassen als ein wenig Zuneigung im Herzen der Menschen – nicht etwa jene tiefen Schmutzspuren, die die Boeing genannten Maschinen in der Luft hinterlassen; sie sterben niemals, denn man kann Hunderte von ihnen aneinandergereiht in der hintersten Ecke einer Wüste in Arizona sehen, sie verabschieden sich in einen endlosen Traum. Um jene Geräte zu bauen, hatte man doch heftig graben müssen, tief in der Erdkruste wühlen, ihr Eisen oder Bauxit entreißen müssen, hatte die Erde mit blutenden Venen hinterlassen, unsere Mutter, unsere Ernährerin im Todeskampf – man glaubt ihre Seele seufzen zu hören, traurig und wehklagend, durchbohrt von den Schwertern der Tunnelbauer.

Und wozu all das?

Er dachte an seinen Vater, Abdeljebbar, der nie ein Auto besessen, nie ein Flugzeug bestiegen hatte; mühsam hatte er sich dem Tagesgebot angepasst und einen schwarzen Solex-Motorroller gekauft –, plötzlich wurde Adam klar, dass auch sein Vater sich nie schneller bewegt hatte als das Vollblutpferd von Hadj Maati.

Er, Adam, war der erste in der Familie, der absurde Schnelligkeit erreichte – und wozu eigentlich, großer Gott? Asphalt verkaufen, Schwefelsäure kaufen, an die Kommission des indischen Agenten denken. Welch ein Elend! Das nennt man Fortschritt – "vorwärts marschieren, vorankommen"; doch mit welcher Geschwindigkeit? Muss es denn die einer Boeing sein?

Das Brummen des Flugzeugs lullte ihn ein, doch Adam wusste, dass dies das letzte Mal war, dass sein Körper mit jede Vorstellungskraft übersteigender Geschwindigkeit durch den Raum flog. Er sah sich auf seinem Sitz, eine aufgeblasene Milbe in Anzug und Krawatte, durch den unendlichen Raum rasend, zischschsch. Es war lächerlich. Eines Enkels von Hadj Maati unwürdig. Ehrlich, es war wirklich peinlich.

Er entschied hic et nunc, dass er nie mehr in ein Flugzeug einsteigen würde.

Das geschah irgendwo über der Andamanensee, an einem Dienstag, beim Anbruch eines Jahrtausends.

Es war der Anfang vom Ende für Ingenieur Sijilmassi.

Die Leiden des letzten Sijilmassi
Roman / Novelle
ALS BUCH:
Hardcover mit Schutzumschlag
288 Seiten
Format: k. A.
Auslieferung: 15. September 2016
D: 24,00 Euro A: 24,70 Euro CH: k. A.

ISBN (Print) 978-3-87536-322-7

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