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Herr Wunderwelt

Belletristik

Jörg Rehmann

Herr Wunderwelt

Jörg Rehmanns Debütroman ist ein tragikkomisches Panoptikum einer Kindheit in der DDR und der Schwulenszene im Berlin der Neunzigerjahre.

Andere Titel des Verlags bzw. der Autorin/des Autors

Verlagstexte

"Ich war einundzwanzig Jahre alt und wollte wunderschön sein. Ich war wunderschön. Niemand hier würde merken, dass ich eine Bluse trug, sächselte und noch nie einen alten Menschen gepflegt hatte."

April 1989: Kurz nach seiner Ausreise nach Westberlin findet sich Dirk als Pfleger in der Residenz am Grunewald wieder. Nicht, dass er eine Ausbildung hätte. Nicht, dass er jemals bleiben wollte. Er hatte eindeutig Größeres vor! Wie damals, in seiner Heimatstadt Schkopau, als er die Russischolympiade und die Kreisspartakiade im Rollschnelllaufen gewann oder als Spitzel für die Freie Deutsche Jugend fungierte.

Schriftsteller möchte er sein, ein großer Dichter! Oder zumindest ein anderer.

In alternativen Identitäten und erfundenen Biografien schummelt Dirk sich durch seine Wunderwelt: Mal spielt er für eine transsexuelle Prostituierte den bissigen Hund, mal tanzt er für Ceauşescu in New Yorks Straßen oder mimt im Ecstasyrausch den gelehrten Psychologen.

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© Cover: Verlag, Foto(s): www.becker.camera

Textprobe(n)

Tagelang lief ich durch New York. Einmal kaufte ich den Spiegel, mein Name fehlte immer noch in der Bestsellerliste, und warf ihn weg. Manchmal glaubte ich, an einer Straßenkreuzung Frau Behrens zu sehen.

Mein Schlafplatz war nur wenige Schritte vom Washington Square entfernt. Die Luft dort war elektrisiert wie in einem Hochsicherheitstrakt. Hunderte ausgemergelte Gestalten warteten auf ihre Dealer und lieferten sich erbarmungslose Kämpfe im Schnorren. Jeder neue Passant wurde ins Visier genommen. Ich trödelte über den Square und gab in Gedanken Interviews auf der Frankfurter Buchmesse. Hatte ich wieder laut gesprochen? Warum sonst starrte mich dieser alte Mann da drüben auf seiner schlammverschmierten Pappe an und kicherte?

Er war bekleidet mit einem Fetzen, der mich an ein aufgeschlitztes Kliniknachthemd erinnerte, und hatte nackte, kotbeschmierte Fersen. Er saß, nein, thronte neben einem Schuhkarton. Wer würde dort auch nur einen Cent hineinwerfen? Die Konkurrenz, singende Bettler mit prächtigen Stimmen und Erzähler ergreifender Opfergeschichten, war riesig. Ich glaubte, dass er rumänisch sprach. Sah er nicht aus wie Nicolae Ceauşescu im Nachthemd? Ich beschloss zu bleiben und zu warten. Einen Nachmittag lang.

Die Residenz am Grunewald erschien mir von hier aus wie ein Fünf-Sterne-Hotel, in dem sich die Zauberinnen in frisch bezogenen Betten zu Tode langweilten. Dachte ich an Frau Behrens, schäumte Wut in mir auf. Noch einmal zwang mich keine Demente zur Emigration!

War Ceauşescu dement? Akribisch zerpflückte er das Stück Pappe, auf dem er saß, in winzige Schnipsel. Ab und zu kroch ein Wort aus seinem Mund. Dann erhob er sich und winkte, als würde er auf einer Tribüne stehen und der Parade zum ersten Mai salutieren. Niemand warf etwas in seine Schachtel.

In den achtziger Jahren war ich ein paar Mal nach Rumänien getrampt, im Retezat-Gebirge gewandert und durch Timişoara spaziert. Rumänien war für mich das schönste Land des Ostblocks. Trotz Ceauşescu. Es gab Wörter wie Bucureşti und Mare. Ceauşescu seufzte. Ich wollte mich um ihn kümmern. Nur heute. Ceauşescu brauchte etwas zu essen und wenigstens eine Flasche Wasser. Mein Geld war knapp. Ich musste mir etwas einfallen lassen und mich von der Masse der schnorrenden Konkurrenz abheben.

Was konnte ich? Mir fiel nichts Besseres als die Tanzschritte ein, die ich einst in der Kindertanzgruppe Buna gelernt hatte. Der slowakische Holzschuhtanz. Der ukrainische Sonnenblumentanz. Der Gänsemarsch. Ich stand auf dem Washington Square und begann, mich zu drehen und zu wiegen. Die Musik spielte in meinem Kopf. Madonna war in einer Diskothek entdeckt worden. Ich am Washington Square. Das würde in meinen Memoiren stehen.

Seht nur, meine ausladenden Armbewegungen, und wie ich die Fußspitzen strecke! Mein Buratinoschritt! Mein Matrjoschkawalzer! Wusste ich’s doch, dass die Jahre im Ballettsaal des Buna-Klubhauses sich eines Tages auszahlen und mich zum Broadway führen würden! Die strengen Augen von Frau Sohle, der Tanzgruppenleiterin, ihre Stimme, die immer schriller wurde, je näher der Tag des Leistungsvergleichs der Kindertanzgruppen rückte, kehrten auf dem Washington Square in mein Gedächtnis zurück.

Ich gab alles. Die ersten Passanten blieben stehen. Elf Dollar und zweiundsiebzig Cent wurden mir an diesem Nachmittag hingeworfen. Das reichte für zwei Flaschen Wasser und ein Mahl vom Chinesen. Ceauşescu schlang und schlürfte, hustete und ignorierte mich.

Am nächsten Tag sah ich ihn wieder. Er irrte mitten in der Rush Hour, die Restpappe in der Hand, auf der Second Street umher. Autos rasten auf ihn zu, als er seine Pappe fallen ließ und sich mitten auf den Asphalt bettete. Er würde überfahren werden. Ich rannte auf die Straße und stieß ihn an. Ich ertappte mich bei dem Gedanken, dass Ceauşescu in ein Heim gehörte. Unter eine Dusche. Ein bisschen Mitosylsalbe – ich hatte die wunde Haut an seinen Unterarmen entdeckt – würde ihm auch nicht schaden.

Den Rest des Nachmittags verbrachte er auf seinem Pappfetzen und starrte Löcher in den Himmel. Wahrscheinlich hatte er seit gestern nichts gegessen und getrunken. Was blieb mir anderes übrig, als wieder Klubhausballerina zu spielen?

Ceauşescu hütete die Schachtel mit den Cents wie seinen Augapfel. Ich blieb für ihn Luft. Manchmal kränkte mich das. Nur manchmal. In solchen Momenten dichtete ich ihm Diagnosen an.

So schuf ich mir in New York den ersten Job. Ich war begeistert von meinen Choreografien und meiner Fürsorglichkeit. Selten hatte ich so einen Feuereifer an den Tag gelegt. Elf Tage lang ernährten meine Honorare dieses Geschöpf, das mir jeden Dank verweigerte.

Am zwölften Tag öffnete er den Mund und murmelte: "It’s enough." Ich hörte und verstand nicht. Er erhob sich und ging an mir vorbei.

"It’s enough now."

Dann lief er auf die Second Street und spazierte den Autos entgegen. Ich sah ihm nach und staunte über seinen aufrechten Gang. Seine Schritte hatten etwas Leichtfüßiges. Ich fragte mich, ob es ein Menschenrecht sein konnte, auf der Second Street spazieren gehen zu dürfen. Seinen Namen hätte ich jetzt gern gewusst. Er verschwand im Verkehrsstrom. Ich habe ihn nicht wiedergesehen.

Herr Wunderwelt
Roman / Novelle
ALS BUCH:
Hardcover

fadengeheftet, mit Lesebändchen

304 Seiten
Format: 110 x 180 mm
Auslieferung: ab 15. März 2020
D: 20,00 Euro A: 20,60 Euro CH: 22,00 CHF

ISBN (Print) 978-3-9525014-2-9

Der Verlag im Netz:

Pressekontakt des Verlages:

Annette Beger
+41 (0)79 2465914
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Vertriebskontakt des Verlages:

Somea Hürlimann
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