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Wie mein Vater Sozialist wurde und ich mich verliebte

Belletristik

Mustafa Kutlu

Wie mein Vater Sozialist wurde und ich mich verliebte

Aus dem Türkischen von Ute Birgi-Knellessen

Als seine Frau stirbt, begibt Ali, der Bulgare, sich gemeinsam mit seinem Sohn auf eine lange Reise. Er sucht sein Glück in Anatolien, zieht von Dorf zu Dorf und findet doch nirgends Ruhe. Nur eine Fuchsie und ein Stieglitz bleiben Konstanten in seinem unsteten Leben.

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Verlagstexte

Mustafa Kutlus Roman ist eine Vater-Sohn-Geschichte und ein Roman über ein Leben ohne geographisches Zuhause, ohne ein konkretes Ziel und über die juristische Bedrohung als Sozialist in der Türkei. Es ist auch eine Geschichte über das Leben in der Provinz mit all seinen Vorzügen und Schwierigkeiten, über Menschen, die dort leben, über die (erste) große Liebe und, zu guter Letzt, eine Geschichte über Bücher und über das Schreiben, denn Mustafa wächst im Rhythmus der ratternden Züge und der nachts klappernden Schreibmaschine auf...

Mustafa Kutlu erzählt eine einfühlsame wie wizige Familiengeschichte und entwirft dabei ein detailreiches Panorama der einfachen Menschen in der ländlichen Türkei. Er erzählt von Ali Bey und seinem Sohn Mustafa, ihren Begegnungen und Bekanntschaften im Zug, die mit ihren Geschichten zu der der Protagonisten auf ganz besondere Weise beitragen.

(Noch) kein Leseexemplar und kein eBook, weil der Satz zurzeit noch nicht abgeschlossen ist.

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© Cover: Verlag

Textprobe(n)

Ich war damals sechzehn Jahre alt - ein magerer, hoch aufgeschossener Junge - und besuchte die erste Klasse des Gymnasiums. Meine Haare wuchsen steil in die Höhe wie bei einem Igel; sie ließen sich weder zur Seite noch nach hinten kämmen und machten mich ganz verrückt.

Mein Vater sagte: "Du bist ja auch ein richtiger Dickkopf... Bei dickköpfigen Männern liegen die Haare nicht an. Du bist ganz offensichtlich nach deinem Großvater geraten. Schade, dass du nicht deiner Mutter ähnelst."

Ja, das fand ich auch.

Meine Mutter hatte blonde seidenweiche Haare. Am meisten aber sehne ich mich nach ihren blauen Augen. "Mein Sohn wird studieren und die höhere Beamtenlaufbahn einschlagen", sagte sie gern und sah dabei meinen Vater verstohlen an. Der erwiderte ihren Blick, als ob sie sich abgesprochen hätten, zuckte mit den Schultern und murmelte, mit einem spöttischen Lächeln:

"Nun... Ich habe studiert. Weit hat mich das aber nicht gebracht."

Jedes Mal, wenn ich an meine Mutter denke, erinnere ich mich an unser Haus von damals, das eigentlich ein Eisenbahnwaggon war. Wie ein märchenhaftes Schiff kommt es aus dem Nebel hervor. In meinem Gedächtnis gibt es ein paar Bilder, Vorfälle und Gesichter. Satzfetzen, gemeinsames Lachen und Schluchzer.

Ich frage meinen Vater danach.

Er antwortet mir bereitwillig und erzählt in allen Einzelheiten, als ob er mir Passagen aus einem Roman vorläse, an dem er gerade schrieb. Und ich tauche wieder in die bonbonfarbene Welt meines fünf- bis sechsjährigen Ichs ein.

Wir wohnten in einem alten Waggon, der auf einem toten Gleis hinter dem Bahnhofshäuschen abgestellt war. Ein zu einem Heim mutierter Eisenbahnwaggon.

 

Mein Vater ging früh zur Arbeit. Wenn ich aufwachte, war er nicht mehr da. Meine Mutter war dann schon draußen und fütterte die Hühner. Ich war ihr deswegen böse. Warte doch auf mich, weck mich auf, damit wir sie zusammen füttern können. Draußen brannte die Sonne. Im Sommer viel Sonne, im Winter viel Schnee. Irgendwo im Osten muss das gewesen sein. Meine Mutter hatte vor dem Waggonhaus einen Garten angelegt. Geflammte blaue Ackerwinden, Morgenprachtwinden und Samtblumen rankten sich um Schnüre, die sie über das Dach des Waggons gezogen hatte; außerdem standen noch zwei in Blechdosen gepflanzte Nelkenstöcke vor der Tür.

Wenn es kälter wurde, nahmen wir die Nelken herein. An der Seite unseres Waggon-Hauses, die auf den Fluss schaute, befand sich ein Fenster. Dorthin stellten wir die Nelken. Wenn ich morgens wach wurde, blendete die durch das Fenster einfallende Sonne meine Augen und Nelkenduft erfüllte den kleinen Raum.

Für die Hühner gab es einen hölzernen Hühnerstall. Und wir hatten einen Schoßhund.

 

Meine Mutter holte Wasser an der Pumpe und wusch mir Hände und Gesicht. Danach zog sie sich in den Schatten des Waggons zurück und schnippelte Bohnen.

Ich spielte in ihrer Nähe und warf Steine nach den Krähen. Gegen Mittag rollte der Postzug vorbei; kurz danach fuhr ächzend und stöhnend ein Güterzug in den Bahnhof ein.

Transportieren die Postzüge immer Soldaten?

So jedenfalls sehen die Bilder in meiner Erinnerung aus.

Der Zug hielt nur kurz am Bahnhof, die Soldaten stürzten sich unter Geschrei auf die Wasserpumpe, wuschen sich prustend und spritzend Hände und Gesicht, füllten schnell, wenn auch nur zur Hälfte, ihre Feldflaschen und rannten wie gehetzt wieder zum Zug zurück.

Die Güterzüge waren müde, altersschwache Eisenbahnen, deren Waggons mit Schafen, Hirten, riesigen Hirtenhunden, mit Kohle und Erz beladen waren.

Meine Mutter hatte mir streng verboten, bis zu den Gleisen vor dem Stationsgebäude vorzudringen. Und wenn schon; sobald die Züge vorbeigefahren waren und alles wieder still war, kam die Frau des Weichenstellers mit ihrer Tochter zu uns herüber. Die Schatten waren länger geworden, und die Abendkühle machte sich bemerkbar. Meine Mutter breitete draußen auf einem Flecken, von dem aus man den Fluss sah, einen Kelim aus. Dort saßen die beiden Frauen dann und sprachen stundenlang miteinander.

Die Frau des Weichenstellers hatte viel zu klagen. Ihr versoffener und übel gelaunter Mann schlug sie bei Tag und bei Nacht. Ihre kleine, höchstens zehn Jahre alte Tochter schien sehr unter dieser Atmosphäre der Gewalt zu leiden; vielleicht hatte der Mann auch sie geschlagen oder gar getreten, auf jeden Fall war sie verstummt. Ich erinnere mich an nur ganz seltene Fälle, in denen sie ein paar Worte von sich gab. So zeigte sie mir die Stoffpuppen, die ihre Mutter ihr genäht hatte, und stammelte "Pup..pe..., Pup...pe...". Wenn wir allein waren, klammerte sie sich an mich wie an einen Bruder. Sie tat alles, was ich von ihr wollte; kletterte wie eine Katze auf die wilden Birnbäume und brachte mir Futtergräser, Sauerampfer, Pilze und was sie sonst noch fand auf dem kargen Steppenboden.

Gemeinsam mit diesem Mädchen jagte ich den Krähen hinterher, oder ich rannte mit den Hunden um die Wette, bis ich müde wurde. Dann legte ich den Kopf in den Schoß meiner Mutter und schlief bald ein. Was sich mir davor noch einprägte: der Himmel, die Wolken und die blauen Augen meiner Mutter.

Noch vor dem abendlichen Gebetsruf kam mein Vater nach Hause, mit einem Korb in der Hand, der gefüllt war mit Brot, Gemüse und immer auch mit einem eingepackten oder rosa-weiß geringelten Bonbon für mich. Ich glaube, er arbeitete damals als Sekretär bei einem Getreidehändler in der am gegenseitigen Ufer des Flusses liegenden Gemeinde.

Später, also nachdem meine Mutter gestorben war, und wir, mein Vater und ich, von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt zogen, habe ich ihm dann einmal – vielleicht während einer dieser endlosen Reisen, sei es in der Fahrerkombüse eines Lastwagens, auf einem Pferdefuhrwerk oder in einem Zweiter-Klasse-Zugabteil – die Frage gestellt:

"Vater, warum sind wir in dieses Waggonhaus eingezogen und von wo waren wir dahin gekommen?"

Wie ich schon sagte, wich mein Vater nie aus oder wimmelte mich ab. Geduldig erzählte er mir in aller Ausführlichkeit die einzelnen Episoden seines Lebens.

Er behandelte mich nicht wie ein kleines Kind, sondern wie einen Freund, einen Gleichgestellten, einen Kameraden.

 

Mein Vater hat meine Mutter gegen den Willen ihrer Familie geheiratet. Genauer gesagt, er hat meine Mutter entführt. Er war ein ganz und gar auf sich allein gestellter Mann. Ein Flüchtling aus Bulgarien, als Kind schon verwaist. Sein Großvater Pelvan Sülüman hatte ihn großgezogen. Großvater und Enkel hatten es dann irgendwann geschafft, in die Türkei zu fliehen. Die anderen Familienmitglieder waren bei dem Versuch, es den beiden gleichzutun, erwischt worden. Bulgarien war damals kommunistisch. Die Beziehungen des Landes zur Türkei waren nicht gut, und die Grenzen wurden streng bewacht. (Mein Vater hatte ja bereits als kleines Kind seinen Vater verloren.) Nach jener missglückten Flucht seiner Familie hat mein Vater nie mehr etwas von seiner in Kırcaali zurückgebliebenen Mutter noch von den anderen Verwandten gehört.

Schließlich gerieten diese Familienbande ganz und gar in Vergessenheit.

Nach seiner Ankunft in Istanbul bezog Pelvan Sülüman mit Unterstützung einiger seiner Landsleute in ein im Stadtteil Eyüp gelegenes Holzhaus mit Garten. Die Hausbesitzerin, eine wohlhabende alleinstehende ältere Frau, wohnte in Nişantaşı. Pelvan Sülüman hatte keinen richtigen Beruf. In Bulgarien hatte er, so hieß es, Rinderzucht betrieben und Milchprodukte hergestellt. Und da war noch der Ringkampf, den er seit seinen Jugendjahren regelmäßig ausübte.

Mit dem wenigen Geld, das ihm verblieben war, kaufte er ein paar Schafe, für die er in einer Ecke des Gartens einen Stall zimmerte.

Für das tägliche Brot sorgte der liebe Gott.

Mit der Zeit vermehrten sich die Schafe. Sie wissen ja, wie nützlich dieses gute Tier dem Menschen ist.

Zu den Schafen kamen dann noch ein paar Kühe und, in einer anderen Ecke des Gartens, ein Hühnerstall. Unter die Hühner und Hähne gesellten sich Truthähne, Gänse und Enten. Und für die ganz Anspruchsvollen hatte Pelvan sogar damit begonnen, Wachteln zu mästen.

Mein Vater meinte dazu: "Wenn wir unseren Hund, unsere Katze, unsere Ziegen und unsere zahmen Tauben dazurechnen, haben wir mitten in unserem Viertel einen Zoo gegründet".

Ja, der Zoo war da, aber gleichzeitig gab es von allen Seiten Kritik: Der Bulgare hat aus unserem Viertel einen Stall gemacht; immer mehr Leute beschwerten sich über krähende Hähne, muhende Kühe und Mistgestank. Als dann einer von diesen Meckerern mir nichts, dir nichts durch die Gartentür eindrang und Pelvan Sülüman sogar bedrohte, ergriff der die Gelegenheit, diesem übermütigen Treiben ein für allemal ein Ende zu setzen: er packte den Mann und hängte ihn in den Maulbeerbaum. Sechs Stunden ließ er ihn dort hängen, als abschreckendes Beispiel sozusagen. Klar, dass danach Ruhe war.

Wie mein Vater Sozialist wurde und ich mich verliebte
Roman / Novelle
ALS BUCH:
Hardcover
180 Seiten
Format: 130 x 195 mm
Auslieferung ab 17.10.2016
D: 16,80 Euro A: 17,30 Euro CH: k. A.

ISBN (Print) 978-3-943562-58-3

Der Verlag im Netz:

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