x
Um unsere Webseite für Sie optimal zu gestalten und fortlaufend verbessern zu können, verwenden wir Cookies. Durch die weitere Nutzung der Webseite stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen zu Cookies erhalten Sie in unserer Datenschutzerklärung.
Fontane Numero 1

Belletristik

Paolo Cognetti

Fontane Numero 1

Aus dem Italienischen von Barbara Sauser

Der Schriftsteller und Dokumentarfilmer Paolo Cognetti (Jg. 1978) verbringt einen Sommer im Gebirge. Eine Schaffenskrise und das festgefahrene Leben in seiner Heimatstadt Mailand bringen ihn auf die Idee, sich für eine Zeit von der Zivilisation zu verabschieden. Fontane Numero 1 erzählt von der schönen, schrecklichen Einsamkeit, in der man sich selbst näherkommt, von einer nicht gekannten Freundschaft und – wir lesen den Beweis – von der Wiederkehr der verlorenen Sprache.

Verlagstexte

"Mit einem Mal war es ganz einfach, ein neues Heft aufzuschlagen und das Echo dessen, was ich sah und hörte, in Worte zu fassen: Zuerst die Bäume. Dann der Wildbach, Schneefall. Dann noch Hasen, Füchse, Hunde, Kühe, Vögel, Rehe. Und schließlich Menschen, zwei im Besonderen."

Eine Schaffenskrise und das festgefahrene Leben in Mailand bringen Paolo auf die Idee, sich für eine Zeit von der Zivilisation zu verabschieden. Inspiriert von Henry David Thoreau, Chris McCandless und anderen Eremiten mietet er eine Hütte in den Bergen – Fontane Numero 1 –, nicht weit von dort, wo er als Kind die Sommer verbracht hat. Als Ende April das Abenteuer beginnt, erwarten ihn da oben Reste von Schnee, das Rauschen des Winds und das Schweigen der Steine.

Das Dasein auf 2000 Meter Höhe bringt die einfachen Dinge zurück: Holz hacken, Feuer machen, die Gegend erkunden, einen Garten anlegen. Paolo spricht mit den Tieren, liest Bücher, hört seltsame Geräusche in der Nacht. Wochenlang sieht er keine Menschenseele, bis aus dem Nebel doch eine Gestalt auftaucht.

Paolo Cognettis Hüttenbuch erzählt von der schönen, schrecklichen Einsamkeit, in der man sich selber näherkommt, von einer nicht gekannten Freundschaft und – wir lesen den Beweis – von der Wiederkehr der verlorenen Sprache.

Downloads

© Cover: Verlag, Foto(s): Roberta Roberto

Textprobe(n)

Vor ein paar Jahren erlebte ich einen schwierigen Winter. Die Gründe dafür sind jetzt nicht wichtig. Ich war dreißig und fühlte mich kraftlos, verloren und niedergeschlagen, wie wenn ein Unternehmen, an das man geglaubt hat, kläglich gescheitert ist: eine Arbeit, eine Beziehung, ein gemeinschaftliches Projekt, ein Buch, das mich Jahre der Mühe gekostet hatte. Mir eine Zukunft vorzustellen, kam mir in diesem Moment ungefähr so abwegig vor wie eine Reise anzutreten, wenn man Fieber hat, es draußen regnet und dazu der Tank leer ist. Ich hatte alles gegeben, wo blieb nun mein Lohn? Die Tage verbrachte ich in Buchläden, Eisenwarenhandlungen, in der Osteria bei mir gegenüber und im Bett, wo ich durch das Dachfenster den weißen Himmel von Mailand betrachtete. Vor allem aber schrieb ich nicht, und das ist für mich, als würde ich nicht schlafen oder essen: Eine solche Leere hatte ich noch nie erlebt.

Das Lesen von Romanen war mir in diesen Monaten zuwider, dafür faszinierten mich die Geschichten von Menschen, die aus Weltverdrossenheit in der Natur Einsamkeit gesucht hatten. Ich las Walden von Thoreau, Mein erster Sommer in der Sierra von John Muir, Geschichte eines Berges von Elisée Reclus. Diese Schriftsteller waren jung wie ich gewesen, als sie von der Zivilisation Abschied genommen hatten, um sich in die Wälder zurückzuziehen. Besonders beeindruckt war ich von Chris McCandless' Reise, die Jon Krakauer in seinem Buch In die Wildnis erzählt. Vielleicht weil Chris kein Philosoph des 19. Jahrhunderts war, sondern ein junger Mann meiner Zeit, der mit zweiundzwanzig Stadt und Familie, dem Studium und den nach westlichen Maßstäben brillanten Zukunftsaussichten den Rücken gekehrt und sich auf einen einsamen Streifzug begeben hatte, der letztlich in Alaska mit dem Hungertod endete. Als seine Geschichte bekannt wurde, verurteilten viele seine Entscheidung als all zu idealistisch, sprachen von Realitätsflucht oder gar Selbstzerstörungstrieb. Ich fühlte, dass ich ihn verstand und eigentlich bewunderte. Chris hatte keine Zeit mehr gehabt, ein Buch zu schreiben, falls das je seine Absicht gewesen war, so oder so werden wir seine wahren Gedanken nie erfahren. Aber er liebte Thoreau und hatte sich sein Manifest auf die Fahnen geschrieben: "Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näherzutreten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hatte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen müsste, dass ich nicht gelebt ha e. Ich wollte nicht das leben, was nicht Leben war; das Leben ist so kostbar. Auch wollte ich keine Entsagung üben, außer es wurde unumgänglich notwendig. Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so hart und spartanisch leben, dass alles, was nicht Leben war, in die Flucht geschlagen wurde. Ich wollte einen breiten Schwaden dicht am Boden mähen, das Leben in die Enge treiben und auf seine einfachste Formel reduzieren; und wenn es sich als gemein erwiese, dann wollte ich seiner ganzen unverfälschten Niedrigkeit auf den Grund kommen und sie der Welt verkünden."

Ich war seit zehn Jahren nicht mehr in den Bergen gewesen. Davor hatte ich zwanzig Sommer dort verbracht. Für mich Stadtkind, aufgewachsen in einer Wohnung in einem Viertel, in dem es nicht möglich war, mal eben raus in den Hof oder auf die Straße zu gehen, waren die Berge der Inbegriff von Freiheit. Ich hatte gelernt, mich, anfänglich etwas unbeholfen und später mit großer Selbstverständlichkeit, im Gebirge zu bewegen, so wie andere Kinder das Schwimmen lernen, wenn ein Erwachsener sie ins Wasser wirft. Mit acht hatte ich angefangen, Gletschertouren zu machen, mit neun im Fels zu klettern, und mit sechzehn zog ich alleine los und fühlte mich auf den Gebirgspfaden deutlich wohler als auf den Straßen meiner Heimatstadt. Zehn Monate im Jahr steckte ich in adretten Kleidern und einem autoritären System von Regeln, die es zu befolgen galt. In den Bergen löste ich mich von all dem und ließ meiner Natur freien Lauf. Es war eine andere Freiheit als jene, zu reisen und Menschen kennenzulernen, oder nächtelang zu trinken, singen und mit Mädchen herumzuflirten, oder Gefährten zu finden, mit denen man zu großen Abenteuern aufbrechen will. All diese Freiheiten schätze ich, und mit zwanzig war es mir auch wichtig, sie gründlich auszukosten, aber mit dreißig hatte ich fast vergessen, wie es sich anfühlt, allein im Wald zu sein oder nackt in einen Fluss einzutauchen oder ganz oben über einen Grat zu laufen, über dem es nur noch den Himmel gibt. Diese Dinge hatte ich früher getan, und meine Erinnerungen daran gehören zu den glücklichsten. Ich empfand den jungen urbanen Mann, zu dem ich geworden war, als das genaue Gegenteil dieses wilden Burschen, und so entstand in mir der Wunsch, diesen wieder aufzuspüren. Es war weniger das Bedürfnis wegzugehen als zurückzukehren. Nicht eine unbekannte Seite von mir zu entdecken, sondern in mir etwas Ursprüngliches wiederzufinden, das mir, wie ich fühlte, abhandengekommen war.

Ich hatte ein wenig Geld gespart, genug, um ein paar Monate ohne Arbeit über die Runden zu kommen. Nun suchte ich nach einem möglichst hoch gelegenen Haus fernab besiedelter Gebiete. Weite Wildnis gibt es in den Alpen nicht, aber für das, was mir vorschwebte, brauchte es kein Alaska. Im Frühling fand ich das Passende, in einem Tal nicht weit von jenem, das ich aus meiner Kindheit kannte: eine Hütte aus Holz und Stein auf zweitausend Metern Höhe, wo die letzten Nadelwälder den Sommerweiden weichen. Den Ort selbst kannte ich nicht, aber die Landschaft war mir vertraut, weil ich als Teenager die andere Seite der Berge durchstreift hatte. Die Hütte war etwa zehn Kilometer von der nächsten Ortschaft und wenige Minuten von einem Dorf entfernt, das sich sommers und winters bevölkerte, aber am dreißigsten April, als ich ankam, war niemand da. Die Wiesen waren noch im Winterschlaf, in den Braun­ und Ockertönen der Schneeschmelze. Gipfel und schattige Täler waren schneebedeckt. Ich ließ das Auto am Ende der asphaltierten Straße stehen. Mit geschultertem Rucksack stieg ich auf dem Saumpfad durch einen Wald und dann über eine verschneite Weide hoch, bis ich zu einer Gruppe von Häusern kam, die bis auf eines – das renovierte, das ich gemietet hatte – alle eingestürzt waren. Vor der Haustür blickte ich mich um: nichts als Wald, Viehweiden und verlassene Ruinen. Am Horizont die Berge, die das Aostatal im Süden Richtung Gran Paradiso abschließen. Ein Brunnen aus einem ausgehöhlten Baumstamm, die Überreste einer Trockenmauer, ein gurgelnder Wildbach. Das würde nun für einige Zeit meine Welt sein, für wie lange, hatte ich noch nicht festgelegt, weil ich nicht wusste, was sie mir bereithalten würde. An diesem Tag war der Himmel dumpfgrau, es war ein frostiger, lichtloser Morgen. Ich hatte nicht die Absicht, mich zu quälen: Falls mich hier oben Gutes erwartete, wollte ich bleiben, möglich war aber auch, dass mich eine noch tiefere Verzweiflung befallen würde, und dann wollte ich fliehen. Ich hatte Bücher und Notizhefte im Gepäck. Meine Hoffnung war, dass ich irgendwann wieder zu schreiben anfangen würde. Aber jetzt war mir kalt, ich musste einen dicken Pullover anziehen und ein Feuer anzünden, und so stieß ich die Tür auf und betrat mein neues Zuhause.

Fontane Numero 1
Erzählung(en)
Ein Sommer im Gebirge
ALS BUCH:
144 Seiten
Format: 120 x 190 mm
Auslieferung: ab 15. März 2017
D: 18,00 Euro A: 18,50 Euro CH: 20,00 CHF

ISBN (Print) 978-3-85869-740-0

Unter der Voraussetzung, dass Sie sich bei uns als professionelle(r) Nutzer(in) registriert haben, können Sie Ihr persönliches REZENSIONSEXEMPLAR durch einen Klick auf den Button „Download“ herunterladen.

Symbol Tablet DOWNLOAD

Die Autorin bzw. der Autor im Netz:

Der Verlag im Netz:

Pressekontakt des Verlages:

Sarah Wendle
+41 (0)44 4054484
sarah.wendle(at)rotpunktverlag.ch

Vertriebskontakt des Verlages:

Thomas Heilmann
+41 (0)44 4054480
thomas.heilmann(at)rotpunktverlag.ch